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1. Was blieb der Landbevölkerung im Mittelalter zum Leben?
Landwirtschaft und Grundherrschaft im Zeitalter Karls d. Gr. (um 800). Anleitung zur Unter­suchung an einem Fallbeispiel.

 

Wird ergänzt...

 

 

 

 

Last update: 14.3.2010

 

© W. Geiger

2004-2010

Was blieb der Landbevölkerung im Mittelalter zum Leben?
Landwirtschaft und Grundherrschaft im Zeitalter Karls d. Gr. (um 800).

Anleitung zur Untersuchung an einem Fallbeispiel

 

 

 

Immer wieder wird man – nicht nur als Lehrer oder als Schüler – mit dem Problem konfron­tiert, dass wir Informationen zu den mittelalterlichen Lebensverhältnissen haben (in Schulbüchern und historischen Quellensammlungen), mit denen wir eigentlich recht wenig anfangen können. Eine beliebte und in der Tat sehr wichtige - auch weil sehr frühe - Quelle ist das Inventar der Ländereien des Benediktinerklosters Saint-Germain, damals vor den Toren von Paris, heute in Paris gelegen (Saint-Germain des Prés), aus dem Jahre 820. Die Angaben bezüglich des Dorfes Nuviliacus, wahrscheinlich das heutige Nully im Département Orne, die von Arno Borst in sein berühmtes Buch "Lebens­formen im Mittelalter" aufgenommen wurden, fanden Eingang in verschiedene Lehrbücher, so eine sprachlich adaptierte Kurzfassung in Anno 1 (Wester­mann) für die Mittelstufe, eine ausführlichere und der Originalquelle (bzw. deren Übersetzung) sprachlich entsprechenden Fassung in Geschichte und Geschehen I Oberstufe Ausg. A (Klett, 2003).

 

In der bei Borst abgedruckten Quelle werden zum Beispiel für die auf einer Hufe ("Hof", landwirtschaftliche Einheit) ansässigen drei Familien, die für die nachfolgenden Berechnungsvorschläge als Muster dienen sollen, folgende Angaben gemacht:

Aus:

Arno Borst, Lebens­­for­- men im Mittelalter, S.347.

(Ausführliche bibliografische Angaben am Ende).

"Der Knecht Abrahil und seine Frau, die Litin Berthild, Eigenleute von Saint-Germain. Das sind ihre Kinder: Abram, Avremar, Bertrada. Und der Lite Ceslin und seine Frau, die Litin Leutberga. Das sind ihre Kinder: Leutgard, Ingohild. Und der Lite Goldalbert. Das sind ihre [sic!] Kinder: Gedalcaus, Celsovild, Bladovild. Die drei bleiben in Nuviliacus. Sie haben eine Hufe, bestehend aus Ackerland 15 Gewann, aus Wiese vier Joch. Sie machen Spanndienst nach Angers und im Monat Mai nach Paris. Sie erbringen für die Heeressteuer zwei Hammel. Neun Hühner, 30 Eier, 100 Bretter und ebenso viele Schindeln, 12 [Fass-] Dauben, sechs [Fass-] Reifen, 12 Fackeln; und an Holz fahren sie zwei Karren nach Suré. Auf dem Herrenhof umzäunen sie vier Ruten mit Latten, auf der Wiese vier Ruten mit Hecken, zur Ernte aber nach Bedarf. Sie pflügen zur Winderbestellung acht Ruten, zur Frühjahrsbestellung 26 Ruten. Neben dem normalen und außerordentlichen Felddienst fahren sie Mist aufs Herrenfeld. Jeder erbringt vier Pfennig Kopfzins."

 

Aus dem Text gehen die verschiedenen Frondienste hervor sowie - v.a. noch im Vergleich zu den anderen Angaben der Dorfbewohner - die verschiedenen Statusformen von Unfreiheit, wie sie in den Bezeichnungen (Knecht, Lite usw.) zum Ausdruck kommen und weitaus differenzierter sind als das klassische Schema von frei, halbfrei (hörig) und unfrei (leibeigen).
Uns interessieren hier jedoch nur die Ernteeinnahmen der Hufe im Vergleich zu den zu leistenden Abgaben, wobei wir die Abgaben von handwerklichen Produkten (zur Fässerherstellung für den Wein des Klosters) und die Abgaben von Tieren oder Tierprodukten beiseite lassen. Bleibt der am Ende genannte Kopfzins von 4 Pfennig, wobei sich bereits die Frage stellt, was hier mit "pro Kopf" gemeint ist; die Formulierung des ganzen Textes legt die Vermutung nahe, dass jeweils das Familienoberhaupt und damit eine Familie als Einheit gemeint ist. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass die Erwachsenen jeweils im echten Sinne pro Kopf gezählt wurden, was natürlich die betriebswirtschaft­liche Berechnung der Einnahmen und Abgaben einer Bauernhufe beeinflusst.

 

1. Kopfzins und Wert der Währung

Was war ein Pfennig im Jahre 820?

Den Wert des Geldes können wir für diese Zeit mit ziemlicher Genauigkeit aus dem Frankfurter Kapitular von Karl d. Gr. aus dem Jahre 794 erfahren, wo Karl ein neues Münz- und Preissystem erlassen hatte. Darin heißt es:

Aus:

794 – Karl der Große in Frankfurt am Main, S.19.

"IV. Unser allerfrömmster Herr König setzte in Übereinstimmung mit der hl. Synode fest, dass niemand, sei er Kleriker oder Laie, die Ernte jemals teurer verkaufe, weder zur Zeit der Fülle noch zur Zeit der Teuerung, als: den neu definierten Königsscheffel Hafer zu einem Denar [= Pfennig] [...]. Will er Brot verkaufen, dann sollen zwölf Weizenbrote, von denen jedes zwei Pfund wiegen soll, für einen Denar abgegeben werden, [...] und fünfundzwanzig Haferbrote, die dasselbe wiegen sollen (je für einen Denar)."

 

Damit ließe sich zunächst berechnen, wie viel Getreide für den Kopfzins hätte in Zahlung gegeben werden können. Dabei stellt sich zunächst die Frage, für wen der Kopfzins eigentlich galt: für alle Personen, für die Erwachsenen oder nur für den Familienvorstand? Man wird aus der Rechnung schnell feststellen, dass der Verkauf von Getreide bei einem Kopfzins für je einen Elternteil (also zusammen 8 Pf. – Pfennig = Denar) einen erheblichen Teil der Ernte „aufgefressen“ hätte. Die Ernte pro Fläche (Gewann) kann aus den weiter unten unter Punkt 3 angebenen zusätzlichen Informationen errechnet werden.

Sinnvoll ist es daher, die Überlegungen ausgehend davon anzustellen, was eine Familie damals zum Leben brauchte.

 

Aufgrund der Angaben der Verordnung Karls d. Gr. lässt sich auch berechnen, wie vielen Haferbroten zu 2 Pfund die fraglichen 4 Pfennig oder Denar Kopfzins entsprachen. Doch damit haben wir erst die Ausgabenseite der Familie, uns fehlt noch vollkommen die Einnahmenseite. Dafür sind zunächst einmal die Maßeinheiten zu klären sowie dann die Frage, wie aus geerntetem Hafer Brot wird.

 

2. Maße, Getreide, Mehl und Brot

Was war ein Pfund Brot?

Und wie viel Hafer wurde darin verbacken?

Ein Pfund Karls d. Gr. betrug 408g.
Getreide (Korn) hat ein durchschnittliches Gewicht von 70 kg / hl nach heutigen Angaben, die Körnergröße war damals sicher geringer, ob dies eine große Auswirkung auf das Gewicht pro Hohlmaßeinheit hatte, ist mir unklar. Vernachlässigen wir dies daher.
Der Ausmahlungsgrad zur damaligen Zeit dürfte höchstens 70% betragen haben, er ist heute natürlich höher, d.h. aus 100% Korn entstanden 70% Mehl, 30% gingen verloren: aus 100 Pfund Korn entstanden also 70 Pfund Mehl.
Das Mischungsverhältnis zwischen Wasser und Mehl wird in einer italienischen Quelle aus dem Spätmittelalter zu 50:50 angegeben, d.h. ein Pfund Brot ist aus 50% Mehl und 50% Wasser entstanden. Der Anteil des Wassers mag hoch erscheinen, er könnte auch niedriger gewesen sein. Beim Backen trat dann auch sicherlich ein Gewichtsverlust ein. Je nach dem, wie man diese Parameter ansetzt, kann man berechnen, wie viel Hafer (Korn) damals in einem Brot zu 2 Karls-Pfund verbacken wurde. Vielleicht kommt man einem Mittelwert nahe, wenn man davon ausgeht, dass im Gewicht des gebackenen Brotes 2/3 Mehl enthalten sind.


Doch wie viel ernteten die Bauern?

 

3. Von der Ernte zum Brot

Die Aussaat als Schlüssel zur Ernte

Die Quelle enthält weitere notwendige Angaben, so heißt es eingangs:

 

"Das Kloster hat in Nuviliacus eine Herrenhufe mit reichlichen Nebengebäuden. Es hat dort zehn kleine Felder mit 40 Gewannen, darauf können 200 Scheffel Hafer gesät werden; Wiese neun Joch, von denen an Heu zehn Karren geerntet werden können. Es hat dort an Wald schätzungsweise drei Meilen in der Länge, in der Breite eine Meile, in dem 800 Schweine gemästet werden können."

 

Die Angaben zur Aussaat (200 Scheffel Hafer) auf der Herrenhufe (die dem Kloster direkt unterstand und von den Hörigen durch Fronarbeit mitbewirtschaftet wurde) ermöglichen eine Berechnung der durchschnittlichen Ernteerträge, wenn man zugrunde legt, dass im frühen Mittelalter die Ernte kaum mehr als das Doppelte der Aussaat betrug, also ein Verhältnis von 1:2 zwischen Aussaat und Ernte bestand, allenfalls 1:2,5 - 1:3 wäre schon eine für die damaligen Verhältnisse gute Relation. Daraus lässt sich der Ernteertrag für die 40 Gewanne und folglich anteilmäßig für die 15 Gewanne der oben genannten Hufe der drei Familien errechnen.

Doch wie kommen wir vom Ernteertrag zum Brot?

 

Ein Scheffel Karls d. Gr. entsprach 78,4 Litern.
Das durchschnittliche spezifische Gewicht von Getreide beträgt etwa 0,7 kg / Liter. (Auch dies eine moderne Angabe, die wir so übernehmen). Folglich lässt sich errechnen, wie viel ein Scheffel Hafer (Korn) wog und wie viel nach Gewicht die Ernte der Musterhufe betrug.
Vom Gesamtgewicht der Haferernte, in Kornsäcke verpackt, kommen wir über den Ausmahlungsgrad und das Mischungsverhältnis mit Wasser (siehe oben) zur Menge der daraus herstellbaren Brote zu 2 Karls-Pfund. (Wer die Rechnung überschlagsmäßig vereinfachen will, kann unser heutiges Pfund zu 500g statt der 408g Karls d.Gr. zugrunde legen).
Über den von Karl d.Gr. festgelegten Brotpreis für Haferbrote können wir ermessen, wie viel die Bauern in Geld umgerechnet ernteten und wie hoch im Verhältnis dazu ihre Abgabe (Kopfzins) war.

Doch was bedeuten Ernteertrag und Abgaben für die Lebensverhältnisse eine damaligen Bauernfamilie?

 

4. Was blieb zum Leben übrig?

Betriebswirtschaftliche Bilanz für eine Hufe

Zunächst können wir den Ernteertrag in Broten pro Kopf und Tag auf die Familiengröße umrechnen, wobei wir einen Erwachsenen als 1 Person und ein Kind als ½ Person ansetzen. Doch Vorsicht bei der Berechnung: Nicht vergessen, dass von der Ernte wiederum die Hälfte für die neue Aussaat zurückbehalten werden muss (beim Verhältnis 1:2 für Aussaat/Ernte)! Darin ist überhaupt der Grund dafür zu sehen, warum in der Quelle Angaben zur Aussaat gemacht wurden.
Für die ärmere Bevölkerung jener Zeit, zu denen die Bauern der Quelle wohl gehörten, war Brot die alltägliche Hauptnahrung: pro Person ca. 1 kg Brot / Tag.
Aus der Berechnung ergibt sich zum Schluss also, wie viel Brote pro Tag und Kopf der Familie von der Ernte nach Abzug des Kopfzinses übrig blieben. Das soll natürlich nicht heißen, dass alles Getreide zu Brot verbacken wurde, häufig wurde das Mehl in Form von Brei gegessen. Wahrscheinlich war das ursprünglich die häufigste Form der Verarbeitung, wenn es stimmt, dass (nach Kleinpaul, S.122f., siehe unten) das Wort "Brot" etymologisch mit dem italienischen "brodo" = Suppe/Brühe verwandt ist. Die Brot-Einheit dient uns nur als Maßstab.
Doch "der Mensch lebt nicht vom Brot allein...": Nicht berücksichtigt sind darin andere Einkünfte und Abgaben (Tierhaltung), sowie die Tatsache, dass die Bauern Überschüsse verkaufen mussten, um sich davon Dinge kaufen zu können, die sie nicht selbst besaßen oder nicht selbst herstellen konnten.

 

5. Nochmal im Überblick...

Angewandte Mathematik...

Die Berechnung muss zwei weit auseinander liegende Dinge miteinander verbinden: die Angabe zur Aussaat pro Flächeneinheit (Gewann) und den zu zahlenden Kopfzins. Die Aussaat erlaubt uns einen Rückschluss auf die durchschnittliche Ernte, die Geldangabe können wir in Kaufkraft (Brote) umrechnen. Als drittes Element zur Orientierung für die Auswertung haben wir noch die Ernährungsgrundlage von 1 kg Brot pro Person und Tag. Die gesamte Kette der zu verknüpfenden Elemente stellt sich somit folgendermaßen dar:

Aussaat - Ernte - Korn - Mehl - Brot - Preis -Kopfzins - Was übrig blieb...

 

 

Alles klar? Nach all den Hinweisen ist es ein Kinderspiel...

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W. Geiger

 

Literaturangaben und Webseiten:

 

Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1973, Ullstein Taschenbuch 1979.

794 - Karl der Große in Frankfurt am Main. Ausstellung zum 1200-Jahre-Jubiläum der Stadt Frankfurt am Main, Ausstellungskatalog 1994, hrsgg. von Johannes Fried u.a., Sigmaringen (Thorbecke) 1994.

Rudolf Kleinpaul, Das Mittelalter. Bilder aus dem Leben und Treiben aller Stände in Europa, Würzburg (Flechisg) 1998. Reprint der Ausgabe von 1895.

Korn. Brot-Getreide-Gräser, Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung im Palmengarten der Stadt Frankfurt am Main, hrsgg. von Matthias Jenny, Sonderheft 36 Palmengarten der Stadt Frankfurt am Main, 2002.

www.mittelalterlich-kochen.de/

Eine hervorragende Linksammlung zum Thema im umfassendsten Sinne

www.tempus-vivit.net

Chatroom für Geschichtsbegeisterte

Ausländische und alte Maßeinheiten. Eine Serviceleistung der HUG-Technik

www.hug-technik.com/inhalt/ta/sondereinheiten.htm

www.lehnswesen.de/Ernährung

Passable Informationssammlung eines Geschichtsbegeisterten

www.maren-winter.de/Historisches/Alltag

Maren Winter ist Autorin eines Romans, der in der Zeit Karls des Großen spielt. Auf ihrer Website liefert sie eine Zusammenfassung ihrer historischen Recherchen dazu.

www.7muehlen.at/Getreide/Getreidesorten

Eine österreichische Website zum Thema Getreide und seiner Geschichte.

www.cannelle.com/ histoire de la boulangerie

Eine französische Website des Bäckerhandwerks mit wertvollen historischen Hinweisen.

www.asn-ibk.ac.at/bildung/faecher/geschichte/maike/mittelalter.html

Die Autorin Maike Vogt-Lüerssen ist Verfasserin mehrerer Sachbücher und Biographien zu Antike, Mittelalter und Renaissance, darunter „Der Alltag im Mittelalter“, aus dem sich das entsprechende Kapitel ihrer Webseite beim Tiroler Bildungsserver speist.

Die Münzreform Karls des Großen, Institut für Geschichte der Universität Würzburg, www.uni-wuerzburg.de/Geschichte

Paul Schweiger/Klaus Mastel: Körner geben Kraft. Informationen über Ansprüche, Anbau, Nahrungswert und Nutzung der wichtigsten Körnerfruchtarten – Präsentation auf dem Landwirtschaftlichen Hauptfest 2001 in Stuttgart,

www.landwirtschaft-mlr.baden-wuerttemberg.de/la/lap/pflqual/nutzpfl/

Geschichte des Müllerhandwerks, Verein Wassermühle Worin

http://home.t-online.de/home/seifert-worin/homepage.htm